Wer erinnert sich nicht an den heiligen Stefan von Perm? Während des Studiums in Berlin wurde er uns als Beispiel vorgeführt.

Das heißt, eigentlich wurde uns seine Vita, die Heiligenlegende, vorgeführt als eines der Paradebeispiele russischer Literatur. Epifanij Premudryj, der weise Epiphanius, hat sie geschrieben. Und er benutzte einen stark elaborierten Stil dafür, das sogenannte pletenie sloves‘.

Pletenie sloves‘, das Verweben der Wörter, war ein Literaturstil, der sich im 14. Jahrhundert im alten Russland herausbildete. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm besonders viele Wörter benutzt und miteinander verwoben werden.

In diesem Stil wurde nun die Vita des heiligen Märtyrers Stefan von Perm von Epifanij geschrieben, und Studierende sollten diese Vita deshalb kennen und in ihren Zwischenprüfungen beschreiben können.

Worum es in dieser Vita geht, war irgendwie zweitrangig. Stefan zog aus nach Osten, in die Gegend von Perm, die im 14. Jahrhundert noch von Heiden bewohnt war.

Getreu dem byzantinischen Muster der Mission ging Stefan zu den Heiden, erfand ein Alphabet für sie und übersetzte grundlegende Schriften des Christentums wie die Liturgie, die Psalmen und eine Zusammenfassung der interessantesten Geschichten des Alten Testaments in diese Sprache und schrieb sie mit dieser Schrift.

Die Übersetzungen und die Sprache sind längst vergessen, von dem Alphabet existiert aber tatsächlich noch eine Abschrift. Und außerdem gibt es in russischen Büchern etwa 200 Wörter, die mit dem permischen Alphabet geschrieben wurden.

Ich bin ja immer davon ausgegangen, dass die Erfindung des Alphabets vom Schreiber der Heiligenlegende erfunden wurde. Wie erstaunt war ich, dass man tatsächlich im 15. und 16. Jahrhundert mit dem Permer Buchstaben geschrieben hat, und zwar altrussisch, nicht Permisch.

Abschreiber und Lesende vergnügten sich damit, im Permischen Alphabet Glossen an Bücherränder zu schreiben, z.B. „mit dem Erzbischof besprechen“, oder Anmerkungen über Einzelheiten in theologischen Traktaten.

Hier bekommt der Inhalt einer eher stereotypen Heiligenlegende plötzlich Leben. Und ein Mensch einen – zugegeben übersichtlichen – Forschungsgegenstand.