Nach der letztjährigen ASEEES-Tagung war ich gespannt auf das Buch von Christian Raffensperger, in dem er die Kiever Rus‘ als Teil Europas darstellt. Als Kiever Rus‘ bezeichnet man das multiethnische Staatengebilde zwischen Ostsee und Schwarzem Meer im 9. bis 12. Jahrhundert n. Chr. Ihre Nachfolge wurde im 14. Jahrhundert von der Moskoviter Rus‘ angetreten, die Hauptstadt des Reiches nach Nordosten verlegt. Und die dominierende Ethnie waren, vereinfacht gesagt, Ostslaven.

Forscher der Kiever Rus‘ sind damit konfrontiert, dass im frühen Mittelalter wenige schriftliche Quellen angelegt wurden. Von diesen sind wiederum viele verloren gegangen, weil die Archivierungssysteme nicht besonders gut waren. Russische Chroniken, die über die frühe Zeit berichten, sind  im 14. Jahrhundert und später entstanden.

Die Quellenlage macht die Schwierigkeit, aber auch den Reiz aus, sich mit der Kiever Rus‘ zu beschäftigen, und ich habe dies immer wieder gern getan. Man muss sehr vorsichtig mit Interpretationen sein und bereit, seine Meinung zu revidieren.

Christian Raffensperger hat sehr viele Quellen für seine Untersuchung benutzt und interpretiert das russische Chronikmaterial sehr vorsichtig. Seine Darstellung ist sehr intelligent und zusätzlich schön zu lesen. Ich habe mir die Weihnachtstage damit versüßt.

Was dargestellt wird, ist eigentlich jedem Mittelalterhistoriker klar. Die Kiever Rus‘ war im Frühmittelalter Teil Europas, wovon Handelswege und Heiratspolitik zeugen. Manch ein Lehrbuch zeigt eine Europakarte des frühen Mittelalters, in der diese beiden Punkte eingezeichnet sind.

Raffenspergers Verdienst ist es, diese Karten und Konzeptionen nicht als bekannt voraus zu setzen und eine gründliche Studie darüber vorzulegen, wie die Beziehungen zwischen den europäischen Herrscherhäusern und Byzanz im Frühmittelalter waren. Dies ist tatsächlich neu und grundlegend und noch nicht zu lesen gewesen.

Literaturangabe:

Raffensperger, Christian: Reimagining Europe. Kievan Rus‘ in the Medieval World, Cambridge, Mass. 2012  (= Harvard Historical Studies; 177)