Seit Francis Thompsons Artikel über das „intellektuelle Schweigen“ im mittelalterlichen Russland streitet sich die Disziplin über die Frage, Intellektualität oder Nicht-Intellektualität. Zum Nachdenken regte mich eine Diskussion auf der diesjährigen ASEEES-Tagung in Boston an. Hierbei kamen verschiedenste Fragen auf.

Was ist eigentlich Intellektualität und woran zeigt sie sich? Ist das Vorhandensein von Universitäten, in denen Ideen ventiliert werden zwingend? Und Buchdruck schon im 15./16. Jahrhundert ebenfalls? Ist eine Manuskriptkultur per se rückschrittlich, wenn sie nicht zum Druck übergeht?

Wie sieht es mit der Bildung einer Nation aus? Kann man diese Kategorie des 19. Jahrhunderts in früherer Zeit fassen? Wie sieht die schriftliche Äußerung in der jeweiligen Nationalsprache dann aus? Und was bedeutet es, wenn Intellektuelle aus der Ukraine, genauer der Kiev-Mohyla-Akademie nach Moskau kommen, um dort zu lehren und zu schreiben und ihre Bücher zu drucken? Kann man ihre Sprache in den in Moskau gedruckten Büchern finden? Wie kann man ihre Einflussnahme auf die russische Kultur bewerten?

Wie soll man bewerten, dass in Moskovien wenig Literatur entstand und wohl auch wenig gelesen wurde? Und wenn, dann wurde nur Kirchenliturgie geschrieben. Ist das überhaupt als Nationalliteratur zu fassen?

Was bedeutet es, dass fast nur Kirchenobjekte als Kunstwerke erhalten blieben und wenige schöne Alltagsgegenstände? Gehört eine schöne Möblierung nicht auch zur Kultur? Und wenn neue Kulturtechniken wie der Buchdruck, der Bau von hochseetauglichen Schiffen oder die universitäre Bildung in Moskovien auftauchten, waren es meistens „Ausleihen“ aus dem Westen. Was bedeutet das für die russische Kultur?

Die Antworten sind vielfältig, aber nicht einfach. Grundsätzlich ist die Frage nach der genuinen „russischen“ Kultur eine heutige Frage und eine Frage der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts. Bereits das russische Imperium arbeitete sich an dem Vergleich mit dem Westen ab. Die Frage nach dem Dazugehören und den Einflüssen erklärt sich aus den Fragen, die Historiker im 19. Jahrhundert bei ihrer Schreibung einer Nationalgeschichte stellten. Sie ist auch die Frage heutiger russischer Eliten an die Vergangenheit.

Aber ist sie überhaupt relevant?

Grundsätzlich stellt sich doch die Frage nach der Ökonomie. Wenn „der Staat“ oder die Gesellschaft grundsätzlich funktionieren, wird intrinsisch keine Veränderung angestrebt. Erst wenn etwas gestört ist, wird es durch Veränderung angepasst. Wenn man in Moskovien keinen Bedarf an weltlicher Literatur, universitärer Bildung, schicker Möblierung, Porzellan, Musik und angewandter Ingenieurtechnik hatte, dann lag dies nicht an der Rückschrittlichkeit der Kultur. Es lag daran, dass man mit dem kulturellen Status durchaus zufrieden war.

Man kannte ja andere Kulturtechniken und hätte sie jederzeit adaptieren können. Es wurden auch genügend adaptiert:

  • Die Handelsnetze waren ausgebaut, und immer neue Waren kamen in und durch die Rus‘, genau so wie immer neue Waren exportiert und die Territorialgrenzen z.B. an den stärkeren Bedarf an Pelzwaren weiter nach Osten ausgedehnt wurden.
  • Herrschaftspraktiken wurden angepasst, wenn es die Mongolenherrschaft oder stärkerer Kontakt mit dem Westen erforderten.
  • Kriegstechniken wurden angepasst.
  • Der militärische Fiskalstaat wurde früh entwickelt und weiterentwickelt.
  • Wenn liturgische oder theologische Texte geschrieben wurden, so geschah dies auf hohem poetischem und theologischem Niveau. Auch Aristoteles war rezipiert worden und wurde benutzt.
  • Die Liste der Ausländer in Moskovien ist lang und beinhaltet nicht nur Militärs, sondern alle Sorten von Handwerkern, Architekten und Intellektuellen.
  • Die Kenntnisse von Fremdsprachen waren vorhanden und wurden ausgebaut, wenn es nötig war.
  • usw.

Wenn wir als Historikerinnen und Historiker nach kulturellen Einflüssen fragen und die Eigenleistung einer Kultur hervorheben wollen, machen wir uns der Kolonisierung schuldig. Wir gehen mit unseren metasprachlichen Analysemethoden an diese Kultur heran, um Vergleiche vorzunehmen. Wenn wir dies vergessen, fangen wir an, die Kultur nach unseren heutigen Maßstäben zu bewerten und ihre Anfälligkeit für Einflüsse von Außerhalb als Schwäche auszulegen. Dies ist falsch.

Wir sollten uns bewusst machen, dass alle menschliche Kultur immer und überall von Austausch lebt und dass Einflüsse einer Kultur konform und nicht Ausdruck einer Stärke oder Schwäche ist. Wandel ist der Kultur inhärent, wir kommen nicht ohne ihn aus und können immer nur eine Momentaufnahme in der Historiographie aufzeigen.


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