Valerie Kivelson und Jonathan Shaheen unterscheiden Hexerei in Ost und West mit Hilfe von Kategorien, die der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin aufgebracht hat.
Das relativ gut dokumentierte, alle Literatur seit dem 15. Jahrhundert z.B. im Malleus maleficarum dargestellte Hexen- und Zaubererwesen in Westeuropa ordnen Kivelson und Shaheen dem monologischen „semiotischen Totalitarismus“ zu. Semiotischer Totalitarismus ist definiert als „die Annahme, dass alles eine Bedeutung in Verbindung zu einem einheitlichen Ganzen hat, eine Bedeutung, die man eruieren könnte, wenn man nur den Kode hätte.“
Diese Definition des semiotischen Totalitarismus, die auf die Bachtin-Interpretation durch Saul Morson und Caryl Emerson von 1990 zurück geht, erinnert an das System von Verschwörungstheorien, das Umberto Eco im Foucault’schen Pendel als den „großen Plan“ ausbreitet. Nun habe ich endlich einen wissenschaftlichen Terminus dafür.
Die östliche Art der Hexerei, die mit alltäglichen Dingen und einfachen Zaubersprüchen agiert, nennen Kivelson und Shaheen übrigens „prosaisch“, in Bachtin’scher Terminologie wäre es „polyphon“. Damit meinen sie, dass die Hexerei in Russland bis zur petrinischen Ära keinem einheitlichen, übergreifenden ideologischen Erklärungsschema gehorcht. Stattdessen handelt es sich um eine diffuse, prosaische Ansammlung von Praktiken.
Dies alles und mehr lernt man, wenn man Kivelson und Shaheens Artikel „Prosaic Witchcraft and Semiotic Totalitarianism. Muscovite Magic Reconsidered“, in: Slavic Review 70,1 (2011), S. 21-44, liest, wie ich es heute getan habe.
Gutes Konzept, weil es über Verschwörungstheorien hinausgeht und z.B. auch den Totalitarismus einbezieht. Wobei man darüber streiten kann, ob eine totalitäre Ideologie nicht per se eine Verschwörungstheorie ist: Die Juden / das feindliche Ausland sind an allem schuld…