Wenn man an großen Konferenzen in der Russischen Föderation teilnimmt, muss man gespannt und aufmerksam sein. Nicht nur, weil die Organisatoren normalerweise viel zu viele Vorträge ohne Pausen aufeinander folgen lassen, sondern auch, weil die Vortragenden – in der Annahme, dass man ihr Abstract ja schon gelesen hat, oder weil es sich in Russland so gehört – ihre Vorträge in rasantem Tempo und normalerweise unter Benutzung einer komplexen Schriftsprache vortragen. Die Nicht-Mutterspracherlin hat nach dem vierten Vortrag auf diese Art schon Schwierigkeiten, dem Inhalt zu folgen.

Hinzu kommt manchmal ein Vortragstitel, der nicht neugierig macht, sondern eher gelangweilt die Achseln zucken lässt. Warum sollte man sich nach einem langen Vormittag mit Vorträgen zu verschiedenen soziologischen und kulturellen Aspekten der Zeit der Wirren nun ausgerechnet noch auf einen Vortrag einlassen, in dem es um die „Kenntnis der Geschichte des Vaterlandes als ein Zeichen für die Achtung vor seinem Volk (am Beispiel  der Kenntnis von Studenten über die Ereignisse der Zeit der Wirren und der Befreiung Moskaus von den polnischen Eindringlingen im Jahre 1612)“ geht?

Schon die ellenlange, von Substantivkonstruktionen wimmelnde Überschrift schreckt vor dem Zuhören ab. Zudem fragt man sich, warum ein Lehrer der St. Petersburger Hochschule für Ökonomie sich mit diesem Thema beschäftigt.

Dann aber stellt sich heraus, dass nach einer Direktive des Präsidenten Studierende ihre nationale Geschichte lernen sollen, und dass deshalb an den Hochschulen die Lehrpläne entsprechend umgestellt werden. Das Thema ist also sehr aktuell. Was am ehesten auffällt ist die staatliche Einmischung in das Ziel des Geschichtsunterrichtes. Oder, um es mit den Worten von Joanne K. Rowlings Heldin Hermione Granger zu sagen: „the Ministry is interfering at Hogwarts.“ (J.K. Rowling, Harry Potter and the Order of the Phoenix) Und dabei ist, wie man sich erinnern mag, nicht viel gutes herausgekommen.

Aus der Perspektive deutscher Geschichtswissenschaft ist am verpflichtenden Geschichtsunterricht für Studierende aller Fächer zunächst nichts auszusetzen, geht doch die Geschichtsdidaktik davon aus, dass die Kenntnis von der Determiniertheit der Gegenwart die Gestaltung der Zukunft mit beeinflusst. (Vgl. den Artikel zum Geschichtsbewusstsein in der Wikipedia.) Worum es allerdings nicht geht, ist, Achtung vor dem eigenen Volk und seinen Leistungen hervorzurufen und einen „vaterländischen“ Geschichtsunterricht abzuhalten.

Insofern ist es beruhigend, dass die meisten Studierenden die einfachen Sachfragen, die ihnen über die Zeit der Wirren gestellt wurden, nicht korrekt beantworten konnten. 62,2% wussten, dass man die Zeit zum Beginn des 17. Jahrhundert „Smuta“ nennt, aber nur 27,1% wussten, dass die Ehefrau des falschen Dmitrij Marina Mniszech hieß. Und so ging es fort, unter dem zustimmenden Nicken der russischen Hochschullehrer, die wohl bei ihren Studierenden ähnliche Ergebnisse erzielen. Im Ganzen wissen die russischen Studierenden auch nicht mehr über ihre Geschichte als die deutschen. Und das ist im Lichte des Ziels des Unterrichts vielleicht auch nicht schlecht.